1 Einleitung
In einem kurzen Satz bringt der zeitgenössische Tänzer und Tanzpädagoge Daniel Roberts famos auf den Punkt, worauf es – auch nach der Postmoderne – im Tanz ankommt: „Es ist dieses großartige Gefühl, im Innern des Instruments zu leben.“ Damit spricht er das Janus-Gesicht des Tanzes an: einerseits ist unser Körper unser Instrument, also ein Gerät, das wir benutzen, andererseits erleben wir diesen Körper und leben in diesem Körper.
Meine Unterrichtstätigkeit zielt darauf ab, somatische Arbeit und formgeprägte Tanztechnik auf vielerlei Arten durchzumischen und damit die Stärken der beiden in einen konstruktiven, erfüllenden und belebenden Zusammenhang zu bringen. In diesem Verhältnis stehen sie meiner Meinung nach nicht immer und nicht selbstverständlich. Weder ausschließlich somatische Arbeit noch ausschließlich formale Tanztechniken schaffen das Lernfeld, das eine zeitgenössische Tänzerin heute braucht. In diesem Sinn zitiere ich Lance Gries: „too much of one thing is too much“ - eine nur scheinbar banale Weisheit.
Was die so unterschiedlichen Lernformen zusammenhält, ist eine meiner Grundfragen, die ich mir schon lange stelle und mit der sich auch diese Masterarbeit auseinandersetzt: Warum habe ich Denken, Fantasieren, Vorstellen, Fühlen und Empfinden in all den Jahren meiner Tanzpraxis als so elementar für das Bewegungslernen erfahren?
Diese Grundfrage fächert in zwei Fragenkomplexe auf. Einerseits allerhand Fragen um Denken und Bewusstsein im Tanz: Wie kann ich Bewusstsein im Zusammenhang mit Tanz verstehen? Was verstehe ich unter Denken im Tanzen? Was ist gemeint, wenn vom intelligenten Körper geredet wird? Und andererseits: Was sind die grundlegenden Unterschiede in den Herangehensweisen an Bewegung, wenn es sich einerseits um somatics oder andererseits um formgeprägte Tanztechniken handelt? Gibt es diese elementaren Unterschiede tatsächlich oder sind somatische wie tanztechnische Methoden allesamt so verschieden, dass diese Polarisierung keinen Erkenntnisgewinn bringt? Warum erlebe ich immer wieder eine Kluft des Nichtwissens zwischen den Menschen, die somatisch orientierte Zugänge verfolgen, und den Menschen, die konventionelle Tanztechnikklassen besuchen, wo sie sich doch in meiner Erfahrung so wundervoll vervollständigen?
Beiden Fragenkomplexe treffen sich in langjährigen Beobachtungen in vielen unterschiedlichen Unterrichtsformen dort wieder, wo Tanzlernen durch bildhafte, sinnenreiche und poetische Arbeitsweisen vorangetrieben wurde. In meiner persönlichen Erfahrung war alles, was mich dazu verführte, meine kognitiven, rationalen und logischen Erkenntnispfade zu umgehen, eine erfüllende, öffnende Lernerfahrung – auch oder gerade weil ich in sehr vielen Fällen nicht genau benennen konnte, was ich lernte. Hier möchte ich genauer untersuchen, warum sich diese scheinbar indirekten Weisen als so fruchtbar erwiesen.
Seit dem postmodernen Aufbruch im Tanz in den USA der späten fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sind Fragen des Bewusstseins, der Wahrnehmung und der Subjektivität nicht mehr aus dem zeitgenössischen Tanz wegzudenken. Somit nimmt die Auseinandersetzung mit dieser Beziehung in jeder zeitgenössischen Tanzpädagogik eine zentrale Rolle ein: Es geht nicht nur um die körperliche Fertigkeiten der Tänzerinnen, sondern um die prozesshafte Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Bewusstsein und Unbewusstsein – und bringt unweigerlich ihre Persönlichkeit und deren umfassende Entwicklung ins Spiel.
Dem ersten Fragenkomplex um Bewusstsein und Denken im Tanz komme ich unter anderem durch die erhellende Lektüre von Guy Claxtons Hare Brain, Turtoise Mind. How Intelligence Increases When You Think Less , Ap Dijksterhuis‘ Das kluge Unbewusste. Denken mit Gefühl und Intuition und Joachim Bauers Warum ich fühle, was du fühlst auf die Spur. Der englische Psychologe und Lernforscher Guy Claxton setzt sich mit dem intelligenten Unterbewussten auseinander und bringt vielfache wissenschaftliche Belege vor, die nahelegen, dass unser undermind weitaus mehr zu unserer Lebensfähigkeit und zu unserer komplexen Intelligenz beiträgt, als normalerweise angenommen. Als undermind bezeichnet er alle reizverarbeitenden Prozesse des Nervensystems, die dem bewussten Denken nicht zugänglich sind. Für eine Zukunft, in der wir Menschen gut leben können, plädiert er für eine Neubewertung dieses Vermögens und für ein neues Zusammenspiel des Bewusstseins und des Unterbewusstseins.
In das zweite Fragenkonglomerat steige ich mit der Hypothese ein, dass es sehr wohl grundlegende Unterschiede zwischen somatischen Arbeitsformen und formgeprägten Tanztechniken gibt. Somatische Arbeit assoziiert man gemeinhin mit einem Lernverständnis, in dem von innerer Erfahrung zur Wirkung in der äußeren Welt vorgegangen wird. Sie wirkt, vereinfacht gesagt, von innen nach außen. Tanztechnisches Lernverständnis bietet dagegen eine handwerkliche Herausforderung an: in der Meisterung einer Tanzfigur, einer bestimmten Tanzbewegung, die in der Folge eine Resonanz in der inneren Erfahrung freigeben soll. Sie wirkt sozusagen von außen nach innen. Somatics sind auf die Entwicklung der Persönlichkeit ausgerichtet, Tanztechniken auf die Beherrschung der Tanzformen.
Ich bin beeindruckt, wie sehr Claxtons Beschreibungen der unterbewussten Wirkungsformen im osmotischen Lernen, in intuitiven und kreativen Prozessen mit vielen methodischen Elementen aus somatischen Praxen, Tanzimprovisation, Experiental Anatomy , Release- und Alignment-orientierten Tanztechniken und Contact Improvisation zusammenfallen. In dieser Arbeit versuche ich nun, sein differenziertes wissenschaftliches Verständnis mit den postmodernen Tanzpraxen in Beziehung zu setzen. Mit seiner Argumentation im Rücken stelle ich Überlegungen zu einem integrativen Ansatz vor, der somatics und formgeprägte Tanztechnik durchmischt. Mein Ziel ist, Tanzstudentinnen ein möglichst vielseitiges und integrierendes Lernfeld anzubieten, das die Stärken beider nutzt. In einer Tanzklasse sollen die Studentinnen sich durch die Matrix ihrer reichen Körpererlebnisse lustvoll auf die vorgegebenen Bewegungsmuster und Tanzsequenzen einlassen können. Dabei ist die vorliegende Arbeit eine Momentaufnahme in meiner unabgeschlossenen Auseinandersetzung mit diesem Thema, das auch in Zukunft meine pädagogische Tätigkeit prägen wird.
Im folgenden Kapitel 2 setze ich mich mit den allgemeinen Merkmalen von somatischen Arbeitsformen und formgeprägter Tanztechnik auseinander. Ihre Unterschiede begünstigen auch gegenseitige Ausgrenzung. Beide Wege, Bewegung zu lernen, haben ihre Stärken, die ich noch klarer erkennen möchte. Aber ich möchte auch ihre Schattenseiten, wie ich sie als Studentin und Lehrende erfahren habe, schärfer fassen. Diese Schattenseiten reflektiere ich in Unterkapiteln, um daraus für die Gestaltung meines Unterrichtsansatzes zu lernen.
Kapitel 3 setzt sich in weiten Teilen mit unserer unbewussten Intelligenz auseinander, wie sie vom englischen Psychologen und Lernforscher Guy Claxton gefasst wird. Sie lebt überall im Körper und ist ganz und gar nicht unserem Gehirn vorbehalten. Wenn wir im zeitgenössischen Tanzen oft leger vom Körper sprechen, meinen wir in den allermeisten Fällen das, was Claxton als den undermind, unser Unterbewusstes, bezeichnet.
Embodiment, als verkörpertes Verstehen ein zentraler Begriff aus den somatics, bezeichnet weniger den Prozess, das Unterbewusstsein mit mehr Bewusstsein auszuleuchten, als vielmehr durch bewusste Entscheidungen ein dem Körperlernen zuträgliches Klima zu schaffen. In diesem Prozess wesentlich ist ein neues Ausbalancieren zwischen kognitivem, analytischem Erkennen und intuitiven Erkenntnis- und Entscheidungsprozessen. Nehmen im Tanzlernen willentlich gesteuertes, zielorientiertes, absichtsvolles, rationales, konzeptuelles oder sprachliches Denken das Ruder in die Hand, kann uns die Kraft unserer Intuition und Kreativität im Prozess weit weniger leiten. Unter anderem kann es zu vergröberter Bewegungsorganisation mit unnötig viel Spannung, relativ eingeschränkter Körperkoordination und reduzierter Abstimmung zwischen Innen- und Außenwahrnehmung kommen.
Zeitgenössische Tanzpraxis sehe ich als Einladung an unsere unterbewussten Fähigkeiten, für unseren Lernprozess verstärkt zu wirken. Dem Bewusstsein kommt darin die Rolle zu, günstige Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich die Wirkungsweisen des Unterbewusstseins entfalten können: nicht-sprachliche Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Erfahrungs-prozesse, Lernen durch Osmose, Intuition und Kreativität. Tanzpraktikerinnen leben und atmen in den dämmrigen und flüchtigen Grauzonen zwischen dem Unterbewussten und dem Bewussten. Wesentlich für ihren Prozess ist, dass und wie sie Wege finden, aus dieser flüchtigen Welt für ihre Tätigkeit des Tanzens zu schöpfen. In Kapitel 4 werden einige bewährte Strategien beschrieben.
In meiner persönlichen Erfahrung mit somatischen Praxen nimmt Body-Mind Centering eine besondere Rolle ein. Seine erfahrungsbasierten Konzepte für den fortwährenden Dialog zwischen Bewusstheit und Aktivität – so benennt Bonnie Bainbridge Cohen ein Ziel von Body-Mind Centering – erlebe ich als sehr stimulierend, ein weites Terrain zur Erforschung von Bewegung und all dem, was in Bewegung hineinspielt, abzustecken. Deshalb stellt Kapitel 5 einige dieser Konzepte vor, die meinen Unterricht inspirieren.
Tanztechnik, wie sie gemeinhin oft genannt wird, greift auf Lernen durch Nachahmung äußerer Formen zurück. Warum und wie es Sinn macht, auf diese älteste Form zu lernen zurückzugreifen, ist in Kapitel 6 nachzulesen.
Schließlich stelle ich in Kapitel 7 meine Überlegungen zu einem Ansatz für zeitgenössischen Tanzunterricht vor, der verschiedene Arbeitsformen mischt und durch diese Mischung auch einen maßgeblichen Ausbau der Nervenzellnetzwerke und der zellulären Wachheit beabsichtigt. Das soll die Tänzerinnen bestens ausstatten, bewegungstechnisch versiert, gesund, spontan und erfindungsreich in künstlerischen Arbeitsprozessen mitzuwirken.
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2012.05.11
Hallo Sylvia,
Dies ist meine Premiere in IDOCDE: ich tätige gerade meinen 1. Eintrag und habe deine Auszüge aus deiner Arbeit mit großem Interesse gelesen. Nun bin ich neugierig auf die anderen Kapitel. Gibt es eine Möglichkeit, deine ganze Arbeit zu lesen?
2012.05.15
liebe Gitta,
super, dass dich die arbeit interessiert, und gratulation zum einstieg! der programmierer arbeitet, so viel ich weiss, noch daran, PDF-formate in die website zu integrieren. wenn das geschafft ist, werde ich die ganze masterarbeit als pdf uploaden. willst du sie sofort, schreib mir an tanz.sylvia(at)aon.at und ich emaile dir die arbeit. okay?
2016.07.30
Liebe Sylvia, ein sehr spannendes Thema. Leider kann ich die PDF auch nicht öffnen. Ich glaube auch, dass der Tanz am reichhaltigsten wird, wenn sich somatics u formgebende Ansätze mischen. Interessieren würde mich auch, ob sich deine Results seit dem Verfassen der Arbeit 2011 für dich verändert oder erweitert haben?